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22.8.21

mündliche Überlieferung und Recherche im Internet

 In einem privaten Brief von 1956 findet sich im Bericht über eine Fastnachtsfeier die Passage: "Ihr Vöglein zwitschert Gesang der Wonne, ihr Felsen in freudiger Rührung erwacht… Prinz Karneval kommt mit seiner Pracht"

Im Internet findet sich beim Schwäbischen Albverein folgende Version:

(I) Ihr Vögel, zwitschert Gesang der Wonne!
Ihr Felder und Wälder zum Jebel erwacht!
(II) Verneiget euch! Die Morgensonne,
die Sonne kommt in ihrer Pracht,
(III) die Sonne kommt, die Sonne kommt,
sie kommt in ihrer Pracht.

Hier darf man einen Tippfehler vermuten: Jebel statt Jubel.

Meine Erinnerung überliefert mir folgenden Text (mit Melodie):

"Ihr Vöglein zwitschert Gesang der Wonne,

ihr Wälder vor lauter Rührung erwacht.

Verneige dich, du Morgensonne!

Der Sultan kommt in seiner Pracht.

Der Sultan kommt, der Sultan kommt,

er kommt in seiner Pracht."

Es ist immer wieder interessant, wie mündliche Überlieferung verändert. Meine Erinnerungsversion geht darauf zurück, dass dieser Vers in unserer Familie relativ oft gesungen wurde. "Prinz Karneval" ist offenbar wegen des Anlasses aufgenommen worden, die Felsen wohl um der gesteigerten Unmöglichkeit.

Meine Erinnerung liefert mir dazu auch noch folgenden Text (mit einer ganz anderen Melodie):

"Pflichtschuldigst gähnet ihr Getreuen, 

der große Sultan hat gegähnt."

Dazu liefert das Internet bei Google books von August “von” Kotzebue · 1841: Theater, Band 35, S.284:

[...] Sult. Nun, so gehn wir. (Er gähnt)

Gähnendes Chor

Pflichtschuldigst gähnet, ihr Getreuen!
Doch wird ein Lächeln ihn erfreuen,
So lacht, bis euch das Auge thränt.

Ehrmann (zugleich).

Sie wechseln die gefärbten Brillen,

Sie jauchzen blind ihm Beifall zu,
Orakel sind des Herrschers Grillen,
Oh Welt! c'est tout comme chez nous..
(Der Vorhang fällt.)

So angeregt, ergänzt meine Erinnerung (mit der Stimme meiner großen Schwester gesungen) "Wird ein Lächeln ihn erfreuen, wird ein Lächeln ihn erfreuen, so lacht, bis euch das Auge tränt." (Aber nichts von "gefärbten Brillen")

Da nicht alle Texte in Google books nur zum Teil zugänglich sind, konnte ich herausfinden, dass die Texte, die ich in Erinnerung hatte, alle aus der fantastischen Oper "Die Brillen-Insel" von August Kotzebue stammen. (Google books Band 35, S.243ff.

Dort findet sich vor den hier zitierten auch die folgende:

Ihr Vögel, zwitschert Gesang der Wonne!
Ihr Felsen in freudiger Rührung kracht!
Verneige dich, o Morgensonne!
Der Sultan kommt in seiner Pracht!

Die Melodien, die ich kenne, stammen also aus einer Vertonung dieser Oper.

Während die oben angeführten aus der 8. Szene des 1. Aufzugs stammen, findet sich der folgende in der 7. Szene des 2. Aufzugs, S.275:

"Er ist da! er ist da!

In seiner Gloria!

Die Freude will uns ersticken!

Wir wissen vor Entzücken
Uns gar nicht zu lassen,

Uns gar nicht zu fassen,

Denn er ist da
In seiner Gloria!"

Nun hilft wieder die Erinnerung weiter. Meine Schwestern, von denen ich Texte und Gesang kennenlernte, waren beide in einer Kindermusikgruppe, der Kleinen Singgemeinde Eschwege von Kristine Biechtler. Dort wurde vermutlich ein Teil dieser Oper aufgeführt. Ob in der Originalvertonung oder in einer für Kindergruppen muss vorläufig offen bleiben. 

August von Kotzebue (Wikipedia)

"[...] Kotzebue galt als ein Vater der dramatischen Trivialliteratur, womit ihm zugleich ein Anteil an der Schaffung einer bürgerlichen Öffentlichkeit im Deutschland des 19. Jahrhunderts als Verdienst verblieb. Heute bemüht man sich, die einseitige Negativkanonisierung (Simone Winko 1999) zu überwinden und Kotzebues persönlichem Anteil an den politischen Anliegen der Spätaufklärung gerecht zu werden. Hier sind vor allem die jährlichen „Kotzebue-Gespräche“ zu erwähnen, die abwechselnd in Tallinn (Reval) und in Berlin stattfinden und die seit 2012 von der Akademie der Wissenschaften in Berlin/Brandenburg, von der estländischen Botschaft in Berlin und von der Musik- und Theaterakademie in Tallinn veranstaltet werden. Zwei Tagungsbände sind schon erschienen (Gerlach, Liivrand, Pappel (Hrsg.) 2016, und Košenina, Liivrand, Pappel (Hrsg.) 2017).

Zu Lebzeiten wurden zwei Sammlungen von Kotzebues Dramen veröffentlicht: Schauspiele (5 Bde., 1797); Neue Schauspiele (23 Bde., 1798–1820). Sämtliche dramatische Werke erschienen 1827–29 in 44 Bänden und unter dem Titel Theater 1840–1841 in vierzig Bänden. [...]

Die Zahl seiner Lustspiele und Dramen beläuft sich auf mehr als 220; 87 davon inszenierte Goethe mit insgesamt 600 Vorstellungen. Kotzebues Popularität war beispiellos, nicht bloß in Deutschland, sondern auch auf den Bühnen des europäischen Kulturraums. Neben August Wilhelm Iffland war Kotzebue der produktivste und erfolgreichste Bühnenautor seiner Zeit.[13] Sein Erfolg basierte auf seinem Gespür für populäres Theater in Stoff und Gestaltung. Beispiele dafür sind seine Komödien Der WildfangDie beiden Klingsberg und Die deutschen Kleinstädter, die eindrückliche Genreschilderungen deutschen Lebens enthalten. Berühmte Komponisten der Zeit vertonten seine Texte: Ludwig van Beethoven komponierte die Musik zu Kotzebues Die Ruinen von Athen (op. 113) sowie zu König Stephan (op. 117) anlässlich der Eröffnung des neuen Opernhauses in Pest im Jahre 1812; Antonio Salieri schrieb die Schauspielmusik zur Wiener Aufführung der Hussiten vor Naumburg (1802/03); und auch der junge Franz Schubert vertonte einige Libretti des Dichters, darunter das Singspiel Der Spiegelritter D 11 (1813) und die „natürliche Zauberoper“ Des Teufels Lustschloss D 84 (1813/14). Albert Lortzing schrieb 1843 sein Libretto zur Oper Der Wildschütz nach Kotzebues Lustspiel Der Rehbock oder Die schuldlos Schuldbewußten. [...]"