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24.3.25

Juli Zeh als politische Intellektuelle

 Ich wusste schon länger, dass Juli Zeh Juristin ist und als ehrenamtliche Richterin am Verfassungsgericht Brandenburg arbeitet. Erst heute bin ich darauf gestoßen, dass sie in Völkerrecht promoviert hat: "2010 wurde Zeh an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken zum Dr. iur. promoviert. Ihre Dissertation behandelt die Rechtsetzungstätigkeit von UN-Übergangsverwaltungen.[4]" (Wikipedia)

Für mich ein Grund, zu schreiben, dass es m.E. gut war, dass sie nicht Außenministerin geworden ist, sondern Schriftstellerin im Hauptberuf, dass man nicht Völkerrecht studiert haben muss, um den Außenministerposten gut auszufüllen und dass zum Glück die Aufgabe des Außenministers in den letzten Jahren nicht entscheidend wichtig für das Wohl der Bundesrepublik war. 

Juli Zeh könnte aufgrund ihrer besonderen Veranlagung und Fähigkeiten ein Amt ausüben, das vor ihr in der Bundesrepublik nur selten wahrgenommen worden ist: Das der  überparteilichen Rede an die Gesellschaft in einer Zeit, wo es überparteilicher Autorität bedarf. Das war die Rede von Bundespräsidenten Richard v. Weizsäcker zum Gedenken der 40-jährigen Jubiläum Kapitulation Deutschlands vom 8.5.1945; daneben auch -  in den politischen Alltag gesprochen - die Bemerkungen von Bundestagspräsidenten Norbert Lammert über die Rolle des Bundestages. 

Ein solches Amt würde im politischen Alltag im Anspruch an seine Autorität überfordert sein (Zeh hat das ihrerseits deutlich für die Rolle des einzelnen Intellektuellen herausgearbeitet), hätte aber in Krisenzeiten wie der Coronaepidemie und des Ukrainekrieges eine wichtige Funktion. 

In den folgenden Interviews beweist Zeh meiner Meinung nach in einzelnen Passagen die für so etwas notwendigen Fähigkeiten.

   Juli Zeh im Gespräch mit di Lorenzo 2023 https://www.youtube.com/watch?v=qMM1Lh6svRU
   Juli Zeh bei 3 nach 9  2016 https://www.youtube.com/watch?v=QjPQjGYGg7Q



3.2.25

Remigration und Deportation

 Es gibt Wortdefinitionen, Wortgebrauch und Wortverständnis von Sprecher und Hörer.

Wes gibt Wörter ohne Zusammenhang, ein Wortverständnis aus einem Zusammenhang.

Es gibt Ironie, Euphemismus und Wortklauberei. 

Ich nehme mir hier die Wörter Remigration und Deportation vor

Remigration: "Remigration [...] bezeichnet den Teil eines Migrationsprozesses, bei dem Menschen nach einer beträchtlichen Zeitspanne in einem anderen Land oder einer anderen Region in ihr Herkunftsland oder ihre Herkunftsregion zurückkehren. Remigration findet in umgekehrter Richtung zur vorangegangenen Migration statt. [...] Der Begriff [...] wurde von der Neuen Rechten als Kampfbegriff und Euphemismus für Vertreibung und Deportation   übernommen." (Wikipedia)

Deportation: "Deportation [...] bedeutet die Verschickung, Verschleppung oder  Verbannung von Straftätern, politischen Gegnern oder ganzen Volksgruppen mit staatlicher Gewalt in weit entlegene Gebiete zu langjährigem oder lebenslangem Zwangsaufenthalt.[2][3][4]   [...]  Der Begriff „Zwangsmigration“ (vgl. Migration), der auch die Vertreibung einschließt, setzte sich in den 1980er Jahren durch, da er auf unterschiedliche Typen von Bevölkerungsverschiebungen im 20. Jahrhundert anwendbar war und die massive Gewalt als deren Hauptursache einbezog, ohne die Unterschiede zwischen den verschiedenen Kategorien erzwungener Bevölkerungsbewegungen zu verwischen" (Wikipedia)

Wenn man von Remigration spricht, dabei aber an dosierte Grausamkeiten zum Zwecke der Durchsetzung der gewünschten Absicht denkt, handelt es sich um einen Euphemismus. Wenn Alice Weidel sagt: "Wenn es Remigration heißen soll, dann heißt es eben Remigration", dann ergibt es keinen Sinn, wenn man nicht an den euphemistischen Wortgebrauch denkt.

Nun zum Wort Deportation:

 Gunter Hofmannberichtet in seinem Buch Richard von Weizsäcker. Ein deutsches Leben C.H. Beck 2010 1994 sei es zu einer kurzen Kontroverse zwischen Weizsäcker und Helmut Schmidt wegen der Aussage aus "der Rede" von 1985 gekommen, "niemandem habe es entgehen können, dass Deportationszüge rollten, wenn er es wissen wollte" (S.65). Schmidt habe dem entgegengehalten, in der gesellschaftlichen Oberschicht habe man sehr viel mehr wissen können als die Durchschnittsbürger. Dann zitiert Hofmann verkürzt Schmidts Aussage über seinen Anfang in der Rekrutenstube 1937: "Allesamt seien sie der naiven Meinung gewesen: 'Gott sei Dank, jetzt sind wir endlich im einzigen anständigen Verein im Dritten Reich gelandet, wo kein Versuch der Indoktrination gemacht wurde. Wir fühlten uns sozusagen in einer Schutzzone. Wir hatten keine Ahnung von den Deporta/tionszügen. Wir haben in der Kaserne nicht einmal die 'Reichskristallnacht' mitgekriegt.'

Daraufhin Weizsäcker:  'Na ja.' 
Schmidt: 'Das glauben Sie nicht, aber so war es.'
Weizsäcker: 'Natürlich glaube ich es Ihnen, da sie es so schildern.' " G. Hofmann: Richard von Weizsäcker (S.65/68)
Das erinnert mich daran, dass ich mit meiner Mutter über die Judenverfolgung in der NS-Zeit gesprochen habe. Dem Sinn nach hat sie mir damals berichtet: Wir haben mitbekommen, dass Juden fortgebracht wurden, und das fanden wir nicht falsch. Aber mehr haben wir nicht gewusst. Ich habe nicht in Erinnerung, dass ich damals inquisitorisch nachgefragt hätte. Ich habe es ihr geglaubt, weil sie es so schilderte. Nach ihrem Tod habe ich eine Passage in ihrem Tagebuch gefunden, in der es dem Sinne nach hieß: Niemand will Krieg, höchstens die Juden. (Meiner Erinnerung nach war die Formulierung "der Jude".)
Wenn meine Erinnerung stimmt, hat meine Mutter also über "Deportationszüge" gewusst; aber was hat sie sich, als sie davon erfuhr, darunter vorgestellt? Ich habe nicht nachgefragt.
Das Wort Deportation hat sie ohnehin nicht gebraucht und wohl auch nicht gekannt (?).

11.12.24

Mehrere Sprachen parallel zu verwenden, führt zu eigentümlichen Schwierigkeiten

Meine Erinnerung sagt: Als ich das erste Mal in England war, konnte ich schlagartig kein Französisch mehr.

Zwischen mehr als zwei Sprachen ständig wechseln zu können und stets gleich fließend zu sprechen, dazu gehört eine Sonderbegabung oder sehr viel Übung.

Von den Sprachen, die ich nie auf der Schule gelernt hatte, konnte ich Spanisch am besten, seit ich Esperanto lerne, fallen mir kaum noch spanische Vokabeln ein. Aber in Latein, dass ich seit gut 50 Jahren überhaupt nicht mehr brauche (und wo ich selbstverständlich keinen sinnvollen Satz hätte spontan formulieren können) mache ich bei duolingo (wenn ich es mal ausprobiere) praktisch keine Fehler. Nur was man früh gelernt hat, ist auch noch nach Nichtgebrauch abrufbar. Aber ist man einmal wieder in eine Sprache eingetaucht, flutscht es wieder. Nach meinem Englandaufenthalt fielen mir aber noch lange manche englischen Fachausdrücke vor den deutschen ein. Und für "on the latch" fällt mir schon wieder kein passender deutscher Ausdruck ein, obwohl ich vor ein paar Tagen erstmalig seit Jahrzehnten einen gehört habe.

In der Familie von Karl Marx wurde ein Kauderwelsch gesprochen, weil sie alle Sprachen verstanden, in der ein Familienmitglied gerade sprach. Es ging nur darum, sich zu verstehen und nicht darum, Sprachen auseinanderzuhalten.

6.12.24

Zeitungslektüre vor dem Aufstehen

 Förster Peter Wohlleben schildert das Altersleiden einer Buche und rekonstruierts ihre Lebenslauf in ihrer Wohngemeinschaft, die seit 4000 Jahren besteht. 

Eva Biringer berichtet in "Un-versehrt" vom stillen Leiden von Frauen, die angeblich Schmerz besser vertragen als Männer, weil sie nicht darüber klagen (sie wollen schließlich nicht als "hysterisch" gelten - das Wort ist von Gebärmutter abgeleitet).

Franzobel berichtet aus China dessen "große Mauer" in Zeiten des Internet nur noch aus ihrer Sprache (?) besteht: "Wie jedes andere Land hat es auch China nicht gern, wenn sich jemand in seine inneren Angelegenheiten einmischt. Da sind wir Westler etwas oberlehrerhaft. Ich habe großartige, freundliche, wunderbare Menschen kennen gelernt. Ich habe viel gestaunt und das Land gemocht, daher meine ich: auch wenn es nicht leicht ist, muss der Westen den Dialog mit China suchen. Wir können von China sehr viel lernen. China, aber auch von uns."  (All diese Berichte finden sich in der FR vom 6.12.24)

Natürlich ist es nicht das "Land", das keine Einmischung will, natürlich nicht "die Regierung", sondern sind es die Regierungsmitglieder, die den größten Einfluss haben, nicht selten Einzelpersonen, die keine Einmischung wollen. Aber wollen wir als Einzelpersonen, das andere darüber bestimmen, was wir zu tun haben?

Wir brauchen Vermittler, die denen eine Stimme geben, die wir nicht wahrnehmen, weil wir damit bequemer ("ruhiger") leben, als wenn wir ständig ("ewig") ihre Klagen hören müssten.

13.11.24

Albrecht Schöne und der internationale Germanistenkongress 1985 in Göttingen

 Ein Zeitungsartikel mit drei parodistischen Interpretationen zu Morgensterngedichten (Die ZEIT13.9.1985) erinnerte mich an den Internationalen Germanistenkongress, der am Ende von Albrechts Schönes  Präsidentschaft (1980-85) der Internationalen Vereinigung für Germanische Sprach- und Literaturwissenschaft  stattfand. Das war Anlass, in Schönes Erinnerungen von 2020 hineinzusehen. 

Der jetzt 99-jährige Germanist ist, erst nachdem meine Schwestern und ich die Universität Göttingen verlassen haben, zu seinem internationalen Ruf als "Repräsentant der Nachkriegsgermanistik" (der zu Schönes Anfängen zumindest in der Bundesrepublik noch Benno von Wiese hatte) aufgestiegen. Die jüngere meiner beiden Schwestern hat ihn noch als höchst jugendlich wirkenden Ordinarius als Bibliotheksaufsicht des Seminars kennengelernt  und beinahe aufgehalten, weil er, ohne einen Studentenausweis vorzuweisen, einfach in die Seminarbibliothek ging. Wir alle drei waren von ihm fasziniert, und weil ich meine Begeisterung über seine Erinnerungen nicht mehr mit meinen Schwestern teilen kann, will ich wenigstens der kleinen Leserschaft dieses Blogs mitteilen, wie sehr mich die Erinnerung an seine hervorragenden Vorlesungen, seine stets sehr präzise, bühnenreife Artikulation und eindrucksvolle Persönlichkeit wieder in Bann gezogen hat. 

Natürlich sind es auch die Erinnerungen an unsere Göttinger Zeit und die kurzen Erwähnungen einiger seiner Kollegen, die ich damals kennengelernt habe. So das einflussreiche Dreigestirn der Historiker Alfred Heuß*, Percy E. Schramm* und Hermann Heimpel* (S. 204-207)

* Dieser höchst selbstbewusste  Hanseat wurde bereits 1958 wie Schöne 1990 in den Pour le Mérite für Wissenschaften und Künste aufgenommen. Ich erinnere mich, wie er - als er einmal eilig den Vorlesungssaal verlassen wollte und nicht die Geduld hatte, sich durch die Menge der Hinausgehenden hindurch zu schlängeln, über die Tische der Bankreihen hinweg hoch über uns dem Ausgang zueilte. 

Ein andermal sein Bericht, dass man früher, wenn man in Washington war, wie es sein Vater oder Großvater getan hatte, einfach mal zum ersten Stock des Weißen Hauses hinaufgehen und mit dem Präsidenten sprechen konnte. Vergleichbar mit der Raumsituation Konrad Adenauers in Bonn, wo sein Arbeitsraum ähnlich klein und so wenig repräsentativ wie der eines Schuldirektors war. Alles andere als das, was den Krupps nach dem Bau der Villa Hügel in Essen (Einzug am 10.1.1873) zur Verfügung stand.

* Bei seinen anschaulichen, sehr klaren Vorlesungen konnte man am besten mitschreiben. Sie waren auch immer wieder einmal mit witzigen Bemerkungen geschmückt. Etwa über den Konflikt zwischen Rom und Karthago, als sich für Rom die Gelegenheit für einen Kriegsgrund ergab: "Die einen sagten, 'Das ist ein As', die anderen, 'Das ist der schwarze Peter'.

* Er sagte über seien frühen Vorlesungsbeginn um 8:00 Uhr, es sei so ein schönes Gefühl, wenn man danach im Café sitze und sich sagen könne, jetzt sei schon ein wichtiger Teil der Arbeit des Tages getan. Über die Übersetzung der Goldenen Bulle Friedrichs II. durch seinen Kollegen Walther Hubatsch mit erhobener Stimme: 'Er hat den abl. abs. nicht erkannt!'. - Mir hat er, als ich - wegen meines Weggangs nach Berlin - den Termin für eine Fleißprüfung nicht wahrnehmen konnte, diese (in einem Brief nach Berlin) erlassen, 'weil ich gewiss seine Vorlesung  sorgfältig nachgearbeitet' hätte. Ob er wusste, dass sein Kollege Heuß mich statt über seine Vorlesung über die von Heimpel geprüft hatte? Mit großem Interesse habe ich seine Autobiographie "Die halbe Violine" gelesen.

12.11.24

Zeitungsausschnitte aus den frühen 1990ern

Ich habe in meiner Hängeregistratur viele nach Schlagworten geordnete Zeitungsausschnitte aus den Jahren 1979 - 1993 (oder etwas mehr) entdeckt und finde einen Artikel über den US-Bürgerkrieg vom 26.4.1991 "Wiedervereinigung auf amerikanisch" von Stig Förster Untertitel: Die misslungene 'Reconstruction'   nach dem Bürgerkrieg (1865-1877): Der Süden blieb weit hinter dem Norden zurück
Weil man die weißen Plantagenbesitzer zu sehr gewähren ließ, scheiterte der Wiederaufbau.
Das Gegenteil der Perspektive von "Vom Winde verweht". Ich will den Artikel, wie mein Bruder es machte, in  mein Exemplar von "Vom Winde verweht" einlegen und stelle fest: Ich habe das Buch ja nur elektronisch. Also an das Zeitarchiv Ausgabe vom 26.4.1991. Der Artikel ist nicht drin.
Dabei ist der Artikel mit seiner Warnung vor dem Scheitern der Wiedervereinigung und der Warnung vor dem Zerfall der Gesellschaft der Südstaaten erschreckend aktuell. 
"Der Wiederaufbau des Südens nach dem Bürgerkrieg endete also mit einem grandiosen Fehlschlag. Denn es fehlte der weißen Bevölkerungsmehrheit an Reformwillen und dem Norden an der Entschlossenheit zur radikalen Reform. Der Süden verfiel in Stagnation, welche in der Region in weiten Teilen heute noch anhält."
Freilich, die Parallele zur deutschen Situation 1991 - so Förster - sei nur minimal,  "daher vielleicht eher ein Menetekel für die Zukunft Südafrikas".

Natürlich, Geschichte wiederholt sich nicht; aber der Zufall hat mir zusammen mit Heitmeyers Blick auf den Rechtsradikalismus von 1992 einen anderen Blick auf die Entwicklung der AfD ermöglicht. 

Jetzt muss ich sehen, ob ich den so erweiterten Blick irgendwie festhalten kann oder es bleiben lasse.
Für das Zeitungsausschnittesammeln für den Unterricht hat sich mit dem Internet eine Alternative geboten; aber: Doch die Vorstellung "Das Papierarchiv wird durch Computer und Internet ersetzt" ist offenbar eine Illusion. Man kommt um die Auswahl nicht herum. 

8.11.24

Erinnerungen

 Enkel, Kinder und Nichte waren da und es kommen Gespräche über Kindheit und Jugend auf: "Ja, Mama und Papa waren auch mal so klein wie du; da waren Oma und Opa für uns wie für euch Mama und Papa." 

Und dann kommen Kindheits- und Jugenderinnerungen herauf, die eine Generation weiter zurück reichen: Das Lied von der Glocke, Reineke Fuchs und "Die Affen rasen durch den Wald". Einerseits Weimarer Klassik und andererseits ein Mundorgellied. Stilistisch weit auseinander. Doch Reineke Fuchs gehört in die Kinderzeit mit den Illustrationen, wo das Löwenkleinkind auf dem Töpfchen sitzt, die Glocke in die spätere Kinderzeit und in die Schulzeit, wo auch die Mundorgel auftauchte.

Im Alter gönnt man der Volksdichtung und der geordneten Bürgerlichkeit, denen sich die Klassiker zuwandten, wieder ihr Recht neben Iphigenie, Faust und Wallenstein. Und dem jugendlichen Blödsinn wie den rasenden Affen wie "Dunkel war's, der Mond schien helle". (sieh auch Wikipedia)