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19.4.20

Golo Mann - Erklärung einer Vorliebe in Bruchstücken

Im März 1909 geboren ist er mit 9 Jahren von Wallenstein fasziniert: "das war Liebe auf den ersten Blick. Ich las Schillers Dreißigjährigen Krieg, und sobald ich zu Wallenstein kam, fing ich fast an zu zittern, dann also war ich hingerissen." (G. Gaus: Zur Person 2. Band, S.181)
Golo Mann war von großer intellektueller Redlichkeit. Aus meiner Sicht übertrifft ihn darin nur Günter de Bruyn.
Vor Gero von Böhm über sein Verhältnis zum Vater befragt, sagte er "Es war unvermeidlich, dass ich seinen Tod wünschte." Im Interview mit Gauss gefragt, ob er sich manchmal im Schatten seiner älteren Geschwister gesehen habe, erklärt er: "Im Schatten ein bißchen; daß ich neidisch gewesen wäre, glaube ich nicht, im Schatten ja. Sie waren älter, ein Altersunterschied, der in der frühen Kindheit nicht sehr wesentlich wirkte, aber als ich ein fünfzehnjähriger Schuljunge war, und mein Bruder war ein eleganter junger Schriftstelle, da war natürlich eine tiefe Kluft." (Gaus, S.177) "Aber sie waren beide gerade damals nett und hilfreich zu mir. Das wollte ich noch betonen." (S.178) 
Über seine Auslandserfahrungen - als junger Mann Leherr in Frankreich, Publizist in der Schweiz, in den USA dann Professor für amerikanische (!) Geschichte - sagt er: "[...] was mir nicht an der Wiege gesungen war, da ich im Grunde als provinzieller Mensch gemeint war" (Gaus, S.186 - Hervorhebung Fontanefan)

Vor kurzem habe ich eine Aussage von mir gelesen, wonach ich - wenn ich mich nicht schon zum Fontanefan erklärt hätte - mich auch zum Golo-Mann-Fan geeignet hätte.
Fünf Blogbeiträge habe ich mit Bezug auf Golo Mann geschrieben (hier 2, 3 hier), einen Wikipediaartikel über seinen Wallenstein.
Dabei habe ich seine Deutsche Geschichte von 1919, die ich als Abiturient vom Land Hessen geschenkt bekam, nicht geschätzt. Dass Hitler nur als H. vorkam, empfand ich als manieriert. Dass es nicht trocken geschrieben war, empfand ich nicht als wesentliche Qualität; denn ich kannte noch keine wissenschaftliche Literatur. Die Hitlerbiographie Alan Bullocks hatte ich auf Englisch gelesen und mich nicht gewundert, dass es mir schwer fiel.
Erreicht hat mich Golo Mann über sein Interview mit Gero von Böhm und über den ersten Band seiner Autobiographie in der Taschenbuchausgabe 2003. Vom zweiten Band "Lehrjahre in Frankreich" kenne ich nur die Rezension (ZEIT 13/1999 25.3.) von Klaus Harpprecht. Sie schließt "Er war, alles in allem, die nobelste und menschlichste Figur in der großen Sippe der Manns."

16.4.20

Zur Triage

 "Die meisten Älteren wissen, wie sie sich zu verhalten haben" FR 16.4.20
"[...] Bei Diskussionen um die Lockerungen des Shutdowns kommt regelmäßig auch der Vorschlag, dass die Schwachen und Alten in der Isolation bleiben müssen, während der Rest der Gesellschaft wieder weitgehend den normalen Alltag leben kann. Wie denken Sie darüber?
Ich finde solche Aussagen und die ihnen zugrunde liegende paternalistische Haltung den Älteren gegenüber schrecklich und unwürdig. Jüngere spielen sich symbolisch gesehen als die selbst ernannten Eltern der Alten auf, die ihnen sagen, was sie zu tun und zu lassen haben. Dabei sind ältere Menschen doch diejenige Gruppe in unserem Gemeinwesen mit der größten Lebenserfahrung. Die meisten handeln vernünftig und wissen selbst, wie sie sich zu verhalten haben. Das kann man auch von ihnen erwarten. Trauen wir ihnen doch einfach zu, dass sie wissen, welches Verhalten risikoreich ist. Das muss ihnen niemand dauernd sagen.
Kann die Corona-Krise den Generationenkonflikt verstärken, wie er sich schon in der Klimadebatte angedeutet hat?
Ja – und der Weg kann in sehr gefährliches Terrain führen. In Extremsituationen – die wir jetzt noch nicht haben – kann es schnell dahin kommen, dass lange gegen kurze Leben gegeneinander abgewogen werden, im Stil von: „Der alte Mensch hat doch sein Leben schon gelebt.“ Solche Vereinfachungen kommen selbst, wie ich in meinem eigenen Freundeskreis feststellen musste, bei gebildeten Menschen vor. Aber man kann Leben nicht anhand der Länge bewerten. [...]" (Fragen: Pamela Dörhöfer Antworten: Hans-Werner Wahl)

Ich halte die Argumentation für ungenau. 
1. Angesichts des gegenwärtigen Standes der Forschung zu COVID-19 besteht unter Experten durchaus noch keine Einigkeit darüber, was getan werden sollte, um das Ansteckungsrisiko und damit die Gefahr einer Überlastung des Gesundheitssystems so gering wie möglich zu halten. Dementsprechend weiß ich es als älterer Mensch auch nicht, trotz abgeschlossenen Hochschulstudiums.
2. Ich selbst hatte vor 5 Jahren mit 70 Jahren vor einer lebensrettenden Operation sehr wohl den Eindruck, "mein Leben gelebt" zu haben. Daran halte ich fest, auch wenn ich jetzt einen Sinn darin sehe, z.B. einen Artikel zum Vergleich von Corona-Epidemie und Klimawandel angelegt zu haben und soziale Kontakte zu Menschen, die älter sind als ich (und zu denen ich aufgrund meiner Beziehungsgeschichte mit ihnen besseren Zugang habe als mancher andere), zu pflegen. 
Natürlich entscheidet nicht die Länge des Lebens über seinen Wert, sehr wohl aber spielen die voraussichtliche Dauer und die voraussichtliche Lebensqualität des Restlebens eine wesentliche Rolle für die Entscheidung bei der Triage. Geht es um wenige Tage, qualvolle Monate oder eine durchschnittliche Restlebenszeit von 40 Jahren?
Das soll die Grundüberlegung von Wahl nicht abwerten (Insofern sollte man den vollständigen Text lesen und nicht nur die Passage, die ich kritisiere.). Die Triage aber sollte m.E.  voraussichtliche Restlebenszeit und Lebensqualität  sehr wohl einbeziehen.