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5.7.25

Erste Kriegsweihnacht 1939. Bericht an den Schwiegervater/Vater

 E, den 13.1.1940

Lieber Vater!

Die Ferientage waren für mich eine rechte Briefschreibezeit. Hauptsächlich nach Blankenburg musste ich mehrfach ausführlich schreiben. Es geht Vater nach dem letzten Nachrichten besser, er ist seit kurz vor Weihnachten zu Hause und ist anscheinend ganz gut vorangekommen in der Zeit. Aber er war ja unglaublich schwach (92 Pfund!), und das ist nicht so leicht wieder eingeholt. Mutter hat nun mit der Pflege, dem Haushalt, der Erschwerung durch Kälte und umständliches Einkaufen, sehr viel zu tun und ist anscheinend sehr herunter. Da habe ich ein paarmal sehr ausführlich geschrieben und von den Kindern erzählt. Die Großeltern haben sie nun diesen Herbst nicht sehen können, wie es geplant war, da sollten sie wenigstens von ihnen hören. Meine Schwester wohnt jetzt für den Winter mit bei den Eltern in Blankenburg und fährt jeden Tag nach Rudolstadt hinüber. Sie hat sehr viel und sehr anstrengende Arbeit, mit [tiefer?] nicht zu wenig Schwierigkeiten und Ärger (Zurückgeführte und Wohnunleserlich unterzubringen geht sicher nicht ohne kleine Reibereien), kann also Mutter gar nicht helfen. Aber wir sind so froh, dass es Vater besser geht! Er ist nun doch Weihnachten zu Hause gewesen, und die Eltern und m. Verwandte haben doch ein Weihnachtsfest richtig gelebt, wenn auch in aller Stille.

Still ging es bei uns nicht zu, das kannst du dir denken! Wir haben uns so über diese Festtage mit den Kindern gefreut! Wie unverdient gut geht es uns in einer solchen Zeit!

Es kommt eben alles darauf an, dass man dieses Gute nicht als selbstverständlich, sondern als Geschenk nimmt und dabei nie die Bereitschaft zum Einsatz und zum Opfer verliert. – Der Gabentisch zu Weihnachten und zu meinen Geburtstage war so reich belegt, wie lange nicht. Dass man praktische Dinge wie Wäsche und Kleidung nicht schenken kann, hat eben auch sein Gutes. Bei mir ist auf diese Weise der Bücherbestand wieder vermehrt worden. Für deine doppelte Beisteuer dazu, zu Weihnachten und zum Geburtstage, hab herzlichen Dank! Du hast mir damit eine große Freude gemacht! Du weißt ja selbst, wie einem gerade ein wissenschaftliches Buch aus dem eigenen Arbeitsgebiet erfreuen und fesseln kann. So geht es mir mit der [schwer leserlich] römischen Geschichte, in der ich jetzt jede freie Stunde fast lese. Da ich auch von meinen Eltern Geld bekam, zum Kaufen unleserlich, konnte ich gestern noch einmal zum Buchhändler gehen und ein paar kleinere Sachen, die mir sehr fehlten, bestellen.

Wir freuen uns, dass ihr Geschwister diese Zeit des Zusammenseins im deutschen Danzig, sich so schön ausnutzt. Es muss euch doch ganz eigenartig sein, nach so langer Zeit wieder alle zusammen zu sein, und noch zu einem solchen Zeitpunkt. Grüße mir bitte alle recht schön und sage auch von mir noch herzlichen Dank für die Weihnachtskarten, den Lene im Namen der Familie wohl schon ausgesprochen hat. Dass Luise nicht bei euch sein konnte, war sehr schade.  Wir haben es erst sehr spät und zwar durch eine Bemerkung von Ilse E. erfahren. Aber nun ist sie anscheinend über den Berg und wird sich wohl bei den Streichen und der Lebendigkeit des Günterleins [geboren 1937] über die verdorbenen Weihnachtsferien beruhigen. Sage bitte auch H. einen herzlichen Gruß und Dank für deine Neujahrswünsche. Wir wissen jedes Wort, das er schreibt, dem Werte nach einzuschätzen und sind deshalb für seine Grüße sehr dankbar. Aber ich weiß nicht, ob ich heute und morgen (nur das Wochenende steht zur Verfügung) dazu komme, noch an ihn zu schreiben.

Wenn du nach deiner Rückkehr aus Danzig wieder einmal rüberkommst, uns zu besuchen, wirst du staunen. Über deine Enkel, vor allem Elisabeth, die sich sehr herausmacht, wenn auch ihre Sprache in einem [unleserlich] primitiven Stadium steckt. Aber man merkt, wie sie vorankommt. Nur mich wundert es immer wieder, wie sie mit einem unglaublich kleinen – nicht Wort-, sondern Silbenschatz, denn sie verwendet fast nur Silben, sich verständlich macht und ganze Sätze bildet. So heißt: "Woff mich mich snell!" was sie mir gestern etwa zehnmal geboten hat: "Das kleine Mäuschen läuft nicht mehr, bitte, lieber Vater, ziehe es wieder auf."

Aber das Kinderthema will ich näher nicht noch anschneiden, sonst komme ich heute nicht mehr ins Bett; denn es ist ja unerschöpflich.

Noch einmal: hab recht herzlichen Dank, grüße alle Danziger, nutze die Zeit in Danzig noch recht aus! Wir alle grüßen dich herzlich!

Dein J.


L.: J. steigt in die römische Geschichte, da will ich schnell noch in der Kindergeschichte fortfahren. "O Baum ling ling = am Weihnachtsbaum waren Glöckchen. "O Baum ling ling nicht Buch" = Aber an dem Weihnachtsbaum im Buch sind keine Glöckchen. "Hotte, hotte doch lingl ing" = Die Schlittenpferde haben auch Glöckchen. "Atta nich poh, poh, Po weh, Po eijich" =, Mutter, du musst mich nicht hauen, das tut meinem Po weh, du musst meinen Po wieder streicheln, das tut ihm gut. "Ich apo, nich dei dei". = Ich will jetzt aufstehen, nicht mehr schlafen. "Ich mamam, nich hop hop" = Ich will Suppe essen, keine klein geschnittenen Stückchen Brot. "Ich doch hoddewä" = Ich will auch auf dem Stühlchen da oben sitzen und die Peitsche in der Hand haben und Kutscher spielen und hochderweg rufen. "Itti agon poh poh"! = Helmut hat mich auf meinen Kopf gehauen (Haare). " tö tö wull" = Stell das Töpfchen aufs Fell, da will ich einen Bach machen. "Ich doch ling ling bach, wuch nich, wuch po" = Ich habe einen Bach gemacht, aber keine Wurst, die ist noch im Po. So geht es den ganzen Tag. Wann kommst du wieder zurück? In der Wünschelrute habe ich noch nichts gelesen, die Kinder brauchen mich zu viel und gehen ja auch vor. Mir geht es ganz gut, ich darf ja dankbar sein! Deine L.

18.5.25

Rosige Zukunft für die schönste Nebensache der Welt?

 Immer mehr Wettbewerbe, immer mehr Kämpfe, wo es auf Kampfgeist und letzten Einsatz und nicht auf Spielverständnis, Eleganz und Spielfreude ankommt. 

Der Kader an Spielern, die erst zum Einsatz kommen, wenn die Spitzenspieler aufgrund der Dauerbelastung  verletzt ausscheiden, entscheidet immer häufiger über den Tabellenplatz, bei dem Zusatzeinnahmen durch internationale Auftritte erzielt werden können.

"Historisch" können für Vereine ein dritter, vierter oder fünfter Platz sein, wenn sie verhindern, dass das im Verein geförderte Talent wegen zu großem Talent zu reicheren Vereinen im In- oder Ausland abwandert. 

Es hat etwas Entlastendes, wenn in Zeiten, wo Kriege und Misswirtschaft auf die Stimmung drücken, ein historischer Triumph oder eine verheißungsvolle Serie oder eine große Begabung gefeiert werden können. Ablenkung von der Wirklichkeit, wie sie Kindern in immer reicherem Maße das Smartphone ermöglicht. Meins meldet mir niedrigste Bildschirmzeiten vor allem, wenn ich mal wieder zu lange am Computer gesessen habe. 

Die Vielzahl der Kriege, von denen Ukraine und Gaza für Europa wegen ihrer großen Nähe eine Sonderstellung einnehmen, und den Klimawandel kann man für eine Zeit mit Bilderflut und Shitstorms verdrängen.  

Über "historischen" Erfolge (für die Vereinskasse) kann man eine Zeit lang die Geschichte vergessen. Eine rosige Zukunft?

Der europäische Dachverbandes Uefa kann jährlich mit Einnahmen von rund 4,4 Milliarden Euro rechnen. "Von diesem Batzen gehen 285 Millionen an die Vereine der Conference League, 565 Millionen Euro an die Europa-League-Teilnehmer – und ungeheuerliche 2,47 Milliarden Euro an die Klubs, die sich für die Königsklasse [Champions League] qualifizieren konnten." (Ran an die ganz dicken Fleischtöpfe FR 20.5.2025)

Über gewalttätige Fußballfans (ZEIT Nr.20 15.5.25)

"[...] Man kann das Problem auch in Zahlen ausdrücken, die von der Zentralen Informationsstelle Sporteinsätze der Polizei nach jeder Fußballsaison zusammengetragen werden. Demnach wurden in ganz Nordrhein-Westfalen 1.846 Strafverfahren während der Saison 2023/24 eingeleitet, 163 mehr als im Jahr zuvor. Bundesweit waren es 7.351 Strafverfahren in der Saison 2023/24, das sind 802 mehr als zuvor. Die Zahl der verletzten Menschen stieg auf 1.509. Die Statistik weist seit Langem in eine Richtung: aufwärts. [...]

"Die Ultra-Chefs, das sind nicht Leute ohne Zähne, die La Paloma pfeifen", sagt Richard Kraschinski, der einen kleinen Schalke-Fanclub leitet. "Das sind angesehene Persönlichkeiten." Leitende Angestellte aus Unternehmen sind dabei, Ingenieure, Studenten, Schüler, sogar Rechtsanwälte. An Spieltagen hält sich auch die "Königsblaue Hilfe" in der Nähe auf: Anwälte kümmern sich um Fans, die mit der Staatsmacht aneinandergeraten sind. [...]

Wer sind die Ultras? Das ist schwer zu ergründen. Die meisten sind zwischen Anfang 

20 und Mitte 40, viel jünger als die Hooligans, die für Auseinandersetzungen zu alt 

geworden sind und den Ultras das Feld überlassen haben.

Sie haben etwas, das man ihnen nicht gleich zutraut: eine sanftmütige Seite. 

Der Chef der  Schalker Ultras beteiligt sich in der Klinik, in der er arbeitet, an 

Maßnahmen zur Gewaltprävention. In der Adventszeit baute seine Truppe auf einem Marktplatz in Gelsenkirchen ihren Stand auf, verkaufte heiße Getränke und Crêpes, 

spendete den Erlös der AWO, einem Kinderhaus und der Tafel Gelsenkirchen. [...]

Anspielungen auf das Verhältnis zur Gewalt findet man auf ihrer Homepage. Etwa, 

wenn es über eine Begegnung mit Fans des Erzrivalen Borussia Dortmund heißt: 

Man habe "dem Feind die Gelegenheit" geboten, "Fakten zu schaffen". Aber die 

Kontrahenten hätten sich nicht getraut. "Um es mit einem Dortmunder Lied 

auszudrücken: ›Die Schalker, die wollten uns schlagen, doch wir wollten lieber nach Haus ...‹"

Eine krude Mischung, empathisch und brutal zugleich

Je länger ich mich über die Ultras informiere, desto mehr kommen sie mir wie eine 

Sekte vor, die das Gute im Bösen vergräbt – und das Böse im Guten. Eine krude 

Mischung, empathisch und brutal zugleich, heute Caritas, morgen Hells Angels.

Sie nehmen für sich in Anspruch, die Seele des Vereins zu verkörpern, und diese 

Seele hat Abgründe zum Vorschein gebracht. Ein Video vom Februar vergangenen 

Jahres zeigt den Aufmarsch schwarz vermummter Schalker Schläger vor einem 

Bahnhof in Magdeburg. Es entwickelte sich eine Massenkeilerei mit Magdeburger 

Fans. Selbst niedergeknüppelte Menschen wurden noch getreten. [...]

Sogar ein Polizist, der den Verein Arminia Bielefeld vergötterte, mischte an Wochenenden heimlich als Hooligan mit und trat montags mit ein paar Schrammen im Gesicht den Dienst auf der Wache wieder an. Später schrieb er darüber ein Buch, das einen vielsagenden Titel trägt: Gewalt ist eine Lösung. In Dresden ist ein fußballverrückter Boxtrainer verurteilt worden, dem 45 Straftaten binnen 100 Minuten nachgewiesen wurden. [...]"
https://www.zeit.de/2025/20/gewalt-fussballfans-schalke-04-hertha-bsc-polizei/komplettansicht

13.3.20

Ein Brief aus Kriegszeiten


 5.12.1944
Mein lieber, lieber J!
Dies soll ein Weihnachtsbrief werden. Möge er dich bei guter Gesundheit antreffen. Liebster, mir fehlen die Worte, dir das Liebe zu sagen, was in meinem Herzen dir entgegen eilt über Raum und Zeit hinweg. Wie auch der Weihnachtstag aussehen mag, wir wollen danken für das Schöne, dass wir einmal hatten, für das, was uns geblieben ist, und uns in allem in Gottes Hand geben. Die alten Weihnachtslieder sind etwas fremd in der heutigen Zeit. Wir leben immer auf der Hut, aber die Kinder sind doch in ihrer Welt, vor allem die kleinen. Helmut und Elisabeth sind schon wacher. Aber die alte Welt mit ihrem Schimmer leuchtet doch noch stark in ihre Herzen. Und wenn uns Gott das Leben und die Möglichkeit gibt, dann ist viel, viel Glanz am Weihnachtsfest bei uns. Puppen von Ille, Nähmaschine von dir, Nähkorb, Wiege und Püppchen von Freia, deine alten Bleisoldaten, Bilderbücher und Bücher zum Lesen, Plätzchen, ja sogar noch die Tafel Schokolade und Birnenhutzeln – Änne will für Tannengrün sorgen. Ob Weihnachtsbaum ist sehr fraglich, aber Kerzen sind noch da. Es kann schön werden. Ist aber alles vernichtet, nur das Leben gerettet, dann wollen wir nicht verzagen. Es ist eine harte Zeit, in der wir leben, Gott wird uns alles lehren. Wir wollen hören und schmecken, wie lieblich der Herr ist, im Grauen, in Not. Ich sage, wir wollen es, wie wir im Falle der Not uns benehmen, das wissen wir heute nicht. Aber bereit sein müssen wir, auch das Schwerste zu ertragen. Es ist heute schon immer eine kleine Übung, wenn wir unsere Herzen immer wieder zur Kinderheiterkeit aufsschwingen. Weißt du, als unser Gut ist mir jetzt schon unpersönlich geworden. Ich übe mich in dem Gedanken,es zu verlieren. Und mit umso dankbarerem Herzen erfasse ich jede Schönheit der Form, der Farbe, der Harmonie und Wärme. [...]


7.12.1944
Nun ist der Tag auch vorbei. Vormittagsprogramm mächtig Alarm, da kam Sommers Mädchen und klagte: nun hat Herr ... alles zurecht gemacht, sein Gedicht gemacht und nun ist das Nikolauskostüm an den Kinderhort verliehen! Und eine Maske haben wir auch nicht. Na, ich beruhigte sie, er solle man kommen, es würde schon etwas gefunden werden. Vielleicht hätten Sie eine Sofadecke. Ich suchte nun in den Zeit (unleserlich) Vaters Lodenmantel, einen Flachsbart von Großmutters Spinnrad, eine Stoffbahn zum Umhängen und anderes, was wir nachher nicht brauchten.
Um 3:00 Uhr kam Frau Steinbach zum Klavierspielen, wo Elisabeth gut, Helmut sehr schlecht abschnitt. Dann aber hüpfte ich mit Gerhard auf dem Hof herum, weil er anscheinend Lufthungerkopfschmerzen hatte. Helmut hatte schon immer um [!] den Nikolaus geredet. Er wünscht sich sehnlichst einen. Na, auf einmal erschien Frau Sommer in der Hoftüre. Ihr Vater verzog sich schleunigst wieder in den Hintergrund und ich führte Frau Sommer ins Kinderzimmer, um dann ihren Vater im Esszimmer mit grauer Wolldecke und Zipfeklappmütze und dem übrigen zu einem großen stattlichen Nikolaus umzuwandeln. Das Säckchen mit Äpfeln von Sommers, Nüssen von Freia und Honigkuchen von Deckers trug er in der einen Hand. Stock, Notizbuch und Schere für die Daumenlutscher in der anderen. So stapfte eher nach dem Klingeln in das Kinderzimmer, das traulich hell ihm in den dunklen Flur entgegenleuchtete mit seinem Tannenschmuck, dem an der Lampe hängenden roten Adventskranz und dem Adventskranz am roten Ständer auf dem Tisch. Die Kinder erwartungsvoll dem Kommenden entgegenschauend. Änne saß stopfend am Tisch, Bücher und Spielzeug nicht unordentlich auch dabei, Puppenstube auf der Truhe, Ball von Freia auf dem Fensterbrett. Ein trauliches Familienbild, würdig von Ludwig Richter festgehalten zu werden.

Und nun hielt der Nikolaus seine Rede, holte sich ein Kind nach dem anderen. Frau Sommer im Korbstuhl flüsterte mir ihr Entzücken über die Haltung der einzelnen zu. Ich saß auf der Truhe und hatte Walter auf dem Schoß. Gertrud plapperte gleich los: "Ich habe eine Puppenstube!" Aber der Nikolaus hörte nicht hin, da stahl sie sich zu mir, ohne die Augen von ihm zu wenden. Bald schlich sich Elisabeth auch zu mir, während Helmut ins Verhör genommen wurde. Ihre Erregung zu verbergen flüsterte sie lebhaft mit Walterchen, verstummte aber, als ein Blick des Nikolaus sie verweisend traf. Trödelei, Schmieren und Übertreiben zu lassen, ließ sich der Nikolaus durch Handschlag versprechen. Helmut in tadelloser Haltung. "Entzückend!!" flüsterte Frau Sommer. Nun Elisabeth! Näschenputzen, Freundlichkeit, Gehorchen aufs Wort wurde in halsbrecherischen Versen von ihr verlangt. Gerhard und Gertrud standen dann nebeneinander mit großen Augen vor dem großen Mann. Gertrud in schwarzen Röckchen, roten Blüschen und Herzchenschüzchen, ein Bilderbuch krampfhaft im Arm. Gerhard blass (Erkältungsfieber abends, heute 37,1) und still aber freundlich. Daumenlutschen und Geschrei sollten abgestellt werden, leise klickte die Stickschere. Die nächsten abgelesenen unglaublichen Verse wurden sicher nicht verstanden, was den Eindruck aber sicherlich nicht schmälerte. Elisabeth wurde noch um ihren Weihnachtswunsch gefragt. Und zur großen Verblüffung aller kam: "Stoff!" Nichts als Stoff, 2 u. 3 x. Schließlich erholte sich der Nikolaus von seinem wiederholten fassungslosen Fragen und sagte: "Stoff, lieber Nikolaus heißt das!" "Für die Puppenkleider, die sie nähen will", erklärte ich. Helmut, der nach Befragen erklärte, Reiter werden zu wollen, wünschte sich: "Bis jetzt noch nichts." Aber in einem Brief an mich hatte er sich gewünscht: 1. dass die Matrosenbluse bis Weihnachten fertig würde und 2. die Hose und 3. Klebstoff, "wenn es geht", jedesmal verständnisvoll hinzugesetzt. Also sagte ich "Klebstoff", was aufgeschrieben wurde. Und dann wurde Helmut das Säckchen zum Verteilen gegeben. Als ich dem Nikolaus fortgeholfen hatte, fand ich eine glückliche Kinderschar  an je einem Apfel knabbernd. Helmut aber fragte ganz dumm: "Wie machen wir denn die Nüsse auf?" Bald waren alle geknackt und verzehrt und auch die Honigkuchen. Ach ja, Änne hatte als Einzigste mit dem Stock Schläge bekommen, weil sie so spät käme. Es rührte sie aber in keiner Weise trotz des wunderbaren Verses: "Änne, die ich ganz genau kenne!" Oh, es war einfach überwältigend. Einen schwarzen Zigarillo musste ich doch für diese Anstrengung opfern, obgleich der alte Herr ihn dir nicht rauben wollte. Aber du hättest ihn sicher auch mit Freunden gegeben. Ja, der gute alte Nikolaus war in Nürnberg gewesen, hatte den Vater gesprochen, es ginge ihm gut und er käme bald. Was so ein Himmelsmann doch alles versprechen kann! Nach dem Abendsüppchen – Gertrud hatte sich an Mutters hochgehäuften Bratkartoffelteller gemacht, zeigte sich bei Gerhard 38,8 Fieber. Und ehe Helmut noch im Bett lag, ging die Sirene. Gerade als alles fertig waren, bis auf Gerhard, der schon schlief, Hauptalarm. Vergnügt tappelten sie in den Keller ab. Und als ich nach einer halben Stunde mit dem dick verpackten Gerhard kam, saßen alle in den Federbetten über die Bücher geneigt. Ich legte mich dazu, Walter im Wagen hin und her schiebend, weil er noch nicht schlief. Elisabeth las Geschichten vor und strickte dabei!!! Ohne hinzusehen! Tatsächlich. Auch jetzt sitzt sie, liest und strickt. Und es ist noch keine Woche her, dass sie die erste Masche gestrickt hat! Es ist erstaunlich. Helmut hatte übrigens nach dem Weggang des Nikolaus die für ihn bezeichnende Bemerkung gemacht: "Er hat aber bloß von dem Schlechten und unseren Fehlern geredet. Das Gute hat er nicht aufgeschrieben!" Er wird so gern gelobt. Er braucht die Anerkennung zur Aufmunterung. – Im Keller war es abgesehen von dem furchtbaren Gestank den Fräulein H. verbreitet, recht gemütlich. Herr Breitstadt zog schließlich seine Uhr und sagte: "Helmut, freue dich 5 Min. nach zehn!" Da braucht er er erst eine Stunde später in die Schule. "Aber Ihre Uhr geht doch vor!" Und Huhuuuu ging die Hauptentwarnung, und es war erst 10 Min. vor 10! "Nun muss sich Helmut wieder entfreuen, meinte Frau H. Wie macht er das? "Indem er das Tintenfass umschmeißt, wie heute nach der Klavierstunde!" sagte ich. Aha. – Na, bald schlafen alle. Und Gerhard Tat die zweite Blaudorntablette so gut, dass er heute wieder fröhlich auf dem Sofa liegend spielt. Und das Kinderplaudern bei Tisch war so fröhlich wie immer. "Ich bin ein Häschen", meinte Gertrud. "Du bist doch kein Nagetierchen", sagte ich. "Ich habe doch kein Nagelscherchen im Munde", echote sie lustig! Ach, J., unsere Kinder! Und Walters Pastellfarben, licht, wie auf Elfenbein von Tischbein gemalt mit diesen himmlischen duftigen Blau, Rosa und Mattgold. Liebster, wo wir auch sind, wir haben Schönstes gesehen, empfunden, erlebt, wir müssen alles bezahlen und immer noch stehen wir im Zeichen der Gnade. Deine L.

21.9.14

responsibility to protect - liebenswerte Naivität oder tragische Blindheit?

Naivität eines Wissenschaftlers hat etwas Rührendes. Naivität eines Politikers ist gefährlich. 


Dabei hatte der blinde Hochmut einer "neuen Weltordnung" die Chancen auf eine verantwortungsvollen internationalen Weg zum Frieden (UNO) schon längst zerstört. 
Bush senior hielt seine Rede bezeichnenderweise an einem 11. September. (1990!)

Beginn des Golfkrieges von Bush senior (16.1.1991)



Mehr zu der Problematik bei Mark Lilla: Freiheit ist nicht alles, ZEIT Nr.37

Beginn der Serie der ZEIT zu der Problematik (ZEIT Nr.36)
Es wäre an der Zeit, dass Interventionisten und Isolationisten, Realisten und Idealisten, Amerikaner und Europäer einander in die Augen sehen und bekennen: Im Moment wissen wir es alle nicht, wir müssen umdenken, anders diskutieren, wir brauchen eine neue außenpolitische Grammatik, in der wir uns dann wieder sinnvoll streiten können. (Bernd Ulrich, ZEIT Nr.36)
Herfried Münkler: Eine neue Weltordnung entsteht, ZEIT N.39 18.9.14
Die seit Jahrzehnten expandierende EU muss zu festen Grenzen kommen und den Prozess ihrer Erweiterung beenden, wenn der Konflikt mit Russland um die geopolitische Zugehörigkeit der Ukraine nicht in einen europäisch-russischen Dauerkonflikt überführt werden soll.