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24.10.20

Schuld und Dankbarkeit

Recht strebt Gerechtigkeit an, aber kann sie nie erreichen.

Die Kluft zwischen Reichen und Armen ist ungerecht und das in vielen Millionen Fällen. 

Wir können daran arbeiten, sie zu überwinden, in unserer Zivilisation ist es noch nicht gelungen. 

Auch der, dem es gelingt, sich mit dieser Ungerechtigkeit abzufinden, weil er sie sich nicht so deutlich macht, dass sie ihn ständig quält, erlebt aber in seinem begrenzten Lebensbereich, dass er immer wieder hinter dem zurückbleibt, was er als eigentlich geboten ansieht. Das Gefühl, etwas schuldig zu bleiben, in schweren Fällen das Gefühl, Schuld auf sich geladen zu haben, kann man bei einem geschärften Gefühl von Verantwortung nicht vermeiden.

In den gegenwärtigen Krisen, der COVID-19 Pandemie und dem menschengemachten Klimawandel, tritt es bei COVID-19 die Kluft zwischen perfekter Vermeidung von Ansteckung (angesteckt zu werden - und nach einer erfolgten Ansteckung, sie nicht weiterzugeben) ganz individuell auf einen zu. Beim Klimawandel trifft es alle, die in einer Kultur gelebt haben, die mehr Naturkapital verbrauchte, als immer wieder von neuem entsteht (ökologischer Fußabdruck).

Dass man vor Schicksalsschlägen verschont geblieben ist, dass man mehr Liebe erfahren hat, als man verdiente, dass man dank glücklicher Umstände oder dank Unterstützung durch andere mehr erreicht hat, als man billig erwarten durfte, all das ist "ungerecht", weil andere es nicht erfahren haben. Wenn man dafür nicht dankbar sein kann (sondern es als einen recht und billig zukommend ansieht), ist das Schuld.

Schuld ist auch das Selbstsüchtige, was wir nur gewollt, aber dank günstiger Umstände nicht verwirklicht haben. 

Das Christentum fasst diese Schuld mit dem Begriff Sünde (Entfernung von Gott, von dem, wie menschliches Leben eigentlich gemeint ist). Nach Luthers Verständnis wird diese Sünde durch göttliche Gnade beseitigt ("allein durch den Glauben", Rechtfertigungslehre).

Der gnädige Gott ist ist seit der Aufklärung vielen nicht mehr wichtig. Dafür nimmt die Auffassung, dass die Menschheit insgesamt auf einem falschen Wege ist, zu. 

In den letzten Jahren konnte man den Eindruck haben, dass die globale Ungerechtigkeit abgenommen hat, da doch die Zahl von Menschen in absoluter existenzieller Armut abgenommen hat. COVID-19 und die Maßnahmen, die zur Bekämpfung ergriffen wurden, haben aber dazu geführt, dass viele Millionen wieder dahin abgestürzt sind. Der Klimawandel droht, Milliarden dahin zu stoßen. 

"Wir fahren hin durch deinen Zorn, und doch strömt deiner Gnade Born in unsre leeren Hände [...]

Und diese Gaben Herr allein lass Wert und Maß der Tage sein, die wir in Schuld verbringen"

(Klepper: "Der du die Zeit in Händen hast", EG 64)

22.10.20

Twittergespräche

Es treibt mich um, auf welchem Niveau von intelligenten Menschen auf Twitter argumentiert wird. 

@Dejan Freiburg schreibt auf Twitter:
Person behauptet, Mund-Nase-Bedeckungen führen zu Sauerstoffmangel. Verweise auf WDR-Beitrag, der das entkräftet. Sie erklärt, dass es keine Fakten gäbe, die nicht widerlegbar seien und sich jeder seine eigene Wahrheit konstruiere. Alternative Fakten werden in D zu einem Problem.

Ich (@Fontanefan) antworte darauf:

Ich habe einen guten Bekannten, der nur kurze Strecken ohne Sauerstoffzufuhr gehen kann. Der hat noch keine Maske gefunden, die ihm nicht die größten Schwierigkeiten macht. Kann der WDR das auch widerlegen?

Darauf @Dejan Freiburg:

Hier kannst du dir den Beitrag ansehen und selbst ein Bild machen: instagram.com/p/CGfU0DjKL1N/

Die Begleitinformation zum gif-artigen Video lautet:

😷 Atmen mit Maske ist anstrengend, aber nicht gefährlich. Unser kleines Experiment mit einem sogenannten Pulsoxymeter zeigt, dass ein Mund-Nasen-Schutz die Sauerstoffsättigung im Blut nicht sonderlich verändert. Das Pulsoxymeter misst, wie stark Hämoglobin (Protein der roten Blutkörperchen) mit Sauerstoff beladen ist. Der Wert schwankt immer ein bisschen. . 🏥🩸 Pulsoxymetrie ist seit den 70er Jahren sehr verbreitet, um den Zustand von Patienten schnell einzuschätzen. Etwa im Rettungsdienst oder auf der Intensivstation. Die meisten Pulsoxymeter besitzen eine gute Messgenauigkeit (±2 Prozent) im Bereich einer Sättigung von 70–100 Prozent. Trotzdem ersetzt sie nicht die Blutgasanalyse. . ☝️ Übrigens: Es ist falsch, dass sich unter der Maske gesundheitlich bedenkliche Menge CO2 ansammeln, die man dann einatmet. Erstens: Unter der Maske ist kein Platz für große Mengen, weil sie eng anliegt. Zweitens: CO2 kann durch die Maschen der Maske und an den Seiten entweichen. . . .

Dazu der Kommentar von @felixio_9697: 

Hm, das passt irgendwie nicht zu dem, was in den Schreiben der bayrischen Staatsregierung und des Bundestages steht, welches sich an alle Mitglieder des Bundestages richtete. Dort wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass sich bereits nach 30 Minuten der C02 Gehalt erhöhe und der Sauerstoffgehalt reduziere und deshalb die Maske zwischendurch abgenommen werden müsse. In dem Schreiben der bayerischen Staatsregierung heißt es hierzu, dass aus pathophysiologischer Sicht der CO2 Gehalt bedeutsamer als der Sauerstoffgehalt sei. Insofern wurde in diesem Experiment die falsche Komponente gemessen. Unklar ist zudem, über welchen Zeitraum und mit wie vielen Probanden dieses „wissenschaftliche“ Experiment durchgeführt wurde und ob Störvariablen genügend berücksichtigt wurden. Wenn die Masken nun trotzdem wirklich so unbedenklich sind, warum entzieht sich der Staat dann jeglicher Haftung? 

Ich (@Fontanefan) über das Video zu @Dejan Feiburg:

Diese Darstellung ist ein schlechter Witz. Selbst ich weiß von meinen Krankenhausaufenthalten her, dass sich der Sauerstoffgehalt des Blutes nicht in Sekundenschnelle verändert, wenn die Atmung nicht völlig unterbrochen wird.

und dann:

Völlig ohne Informationsgehalt. - Selbstverständlich kann ich diese Frage nicht wissenschaftlich beurteilen. Das Video ist schlechter als Persilwerbung in den 50er Jahren. Jeder Versuch einer Erläuterung fehlt. Kennst du sachl. Informationen zum Thema?

Dazu: Ich hatte das Video auf Instagram gesehen und konnte von den Kommentaren dazu (aus irgendwelchen technischen Gründen) fast gar nichts lesen.

@Dejan Freiburg:

Das ist ein Insta-Beitrag, der aus Social Media-Gründen ne zeitliche Grenze hat. Es geht hier nicht um Sekunden, da der Teil, bei dem Sie mehrere Masken aufsetzt, beschleunigt wurde. Das ist auch kein Witz, sondern ein wissenschaftsjournal. Beitrags eines öffentl.-rechtl. Senders

Mein Kommentar: Ich war durch das Instagram-Video so empört, dass ich sehr emotional wurde. @Dejan Freiburg verteidigt das Video damit, dass es in einem Wissenschaftsjournal eines öffentlich rechtlichen Senders gesendet wurde.

Kein Wunder, dass man mir nachher unterstellt, ich wüsste nicht, dass Sauerstoffmoleküle durch Stoffmasken hindurch kommen können.* Das ist freilich nicht schlimmer als die Begleitinformation zu dem Video: "Es ist falsch, dass sich unter der Maske gesundheitlich bedenkliche Menge CO2 ansammeln, die man dann einatmet. Erstens: Unter der Maske ist kein Platz für große Mengen, weil sie eng anliegt." 

Schließlich geht es nicht um Mengen von CO2, sondern um den CO2-Gehalt  der eingeatmeten Luft (sieh den obigen Kommentar @felixio_9697 zu der Begleitinformation des Videos) 

* "Das Sauerstoffmolekül hat eine Größe von etwa 0,35 nm. Die Porengröße bei einer FFP1-Maske bewegt sich um 600-900 nm. Als wollten Sie ganz feinen Sand mit einem Gartensieb aufhalten. Ist das sachlich nachvollziehbar?"

Trotz schlechten Erfahrungen [Ich persönlich bin technisch außerstande, alle Twitteräußerungen in ihrem Argumentationszusammenhang nachzuvollziehen.] habe ich mich wieder auf eine Argumentation auf Twitter eingelassen. Ich sollte es bleiben lassen! (23.10.20 6:35)

Etwas irre macht mich bei meinem Entschluss, dass ich im Nachgang zu diesem Austausch von Julia A. einen Hinweis auf eine wissenschaftliche Untersuchung erhielt:

Erstmal: Absolutheit zu fordern empfinde ich vermessen. Ansonsten: Die Wirksamkeit von Masken jeglicher Art wurde weltweit von zuverlässigen Studien belegt. Ein Beispiel: msphere.asm.org/content/5/5/e0 Je höher die Schutzwirkung desto höher auch der Atemwiderstand. Das negiere ich nicht.

Außerdem finde ich in ihrer Timeline einen Bericht über einen schweren Fall von COVID-19 bei einem 68-Jährigen:
https://twitter.com/Anaesthet1/status/1314121375225872384

Twitter hat also weiterhin seine guten und schlechten Seiten. Auf die guten möchte ich nicht verzichten.

14.10.20

Meine Schülerzeit

 Aus einer schulöffentlichen Diskussion:

Der Lateinlehrer: "Macht schafft Recht."

Der Religionslehrer und Direktor sehr energisch: "Macht schafft Unrecht."

Das weitere Gespräch bracht meiner Erinnerung nach: Macht schafft "positives Recht", das für viele ein Unrecht bedeutet, aber sich als neue Wirklichkeit etabliert.

An einem nahe liegenden Beispiel demonstriert: Der Absolutismus mit ständischen Vorrechten und mangelnder Gesetzesbindung des Souveräns war zutiefst ungerecht. Die Französische Revolution proklamierte die Menschenrechte und beseitigte den absoluten Herrscher. Dieser Prozess führte zur Schreckensherrschaft, zu tausendfachem Unrecht. Napoleon nahm in den Code civil rechtliche Regelungen auf, die die Ständeherrschaft weitgehend beseitigten, und verbreitete dieses Recht mit Gewalt in erheblichen Teilen Europas.

Ein ganz aktuelles Beispiel; Im Kampf gegen das Coronavirus werden Menschenrechte zeitweise eingeschränkt, das führt zu Unrecht, das durch das Bundesverfassungsgericht in den Schranken der Verhältnismäßigkeit gehalten wird (oder werden soll - je nach Sichtweise des aktuellen Betrachters). 

Für mich war diese schulöffentliche Diskussion (Ab welcher Klassenstufe des Gymnasiums durften Schüler teilnehmen? Ich weiß nur, dass ich als Schüler zugehört habe, aber nicht, ob Schüler mitdiskutiert haben, halte das aber für nicht unwahrscheinlich.) - diese Diskussion war für mich insofern ein Erlebnis, als die Autoritäten (die Lehrer) sich da gegenseitig in Frage gestellt haben, natürlich in zivilisierter Form. Das war eine Erfahrung von Pluralismus, während in der einzelnen Schulstunde (mehr oder minder?)  immer der Lehrer das letzte Wort hatte. 

Für mich in der Pubertät eine ganz große Autorität war ein Mathematiklehrer, der im Unterricht Diskussionen zu allgemeinen Fragen zuließ, die nicht selten in der Pause noch mit ihm am Lehrertisch weitergeführt wurden und noch länger nachhallten. Meine Geschwister erinnern sich, dass ich in Famliendiskussionen des öfteren sagte "Herr Jung hat gesagt" und diese aus meiner Sicht unbezweifelbare Autorität besserwisserisch meinen größeren Geschwistern entgegengehalten habe. 

Dagegen ist aus meiner Kinderzeit noch in Erinnerung, dass ich mit einem wiederholten "Ich will dir sagen" ums Wort gebeten habe, bis das Gespräch unterbrochen wurde, bis ich meine Äußerung vorgebracht hatte. 

In der Zeit war meine Mutter die nahezu gottgleiche Autorität (mein Vater war im Krieg geblieben), der man nichts verschweigen durfte, auch nicht, was meine Geschwister für sie als Geschenk geplant hatten. 

6.10.20

Aus der glücklichen Zeit vor Hartz IV

 Ein Brief aus dem Jahre 1979, der glücklichen Zeit vor Hartz IV:

An das Zweite Deutsche Fernsehen [...]

Betreff: Bescheinigung über Nebeneinkommen

Bez. Vertrags-Nr.: 09522 vom 22.12.78 [...]

Sie waren so freundlich, mir im Januar dieses Jahres 200 DM als Honorar für den oben angegebenen Vertrag zu überweisen. Da ich nun zur Zeit arbeitslos bin und folglich verpflichtet, dem Arbeitsamt jegliches eigene Einkommen anzugeben, wenn ich nicht fürchterlicher Strafen gewärtig sein will, habe ich den Erhalt dieser 200 DM pflichtschuldig dem Arbeitsamt gemeldet. Damit nicht zufrieden, fordert dieses aber noch eine Bescheinigung über Nebeneinkommen von mir, die auf einem vorgeschriebenen Formular des Arbeitsamtes zu erfolgen hat. Leider hatte ich aber die Vertragskopie, die sie mir freundlicherweise überlassen haben, verlegt und konnte also zunächst dem Verlangen des Arbeitsamtes nicht nachkommen. Als ich sie aber endlich fand, erschreckte mich der Satz "Bitte diesen Vertrag aufbewahren, da wir keine Verdienstbescheinigungen ausstellen" außerordentlich. Da das Arbeitsamt trotzdem auf der Verdienstbescheinigung besteht, fürchtete ich, vielleicht einen falschen Vertrag erwischt zu haben: Was Sie da über verschiedene Vertragsformen und Steuersorten zu den Verträgen angegeben haben, hatte ich nämlich keineswegs verstanden. Und das Formular vom Arbeitsamt war auch nicht gerade sehr verheißungsvoll. Zum Beispiel wollen die Leute da die Nettovergütung erfahren "nach Abzug der Steuern, der Sozialversicherungsbeiträge und der Beiträge zur Bundesanstalt für Arbeit". Davon habe ich natürlich nichts bezahlt und auf dem Vertrag steht so etwas auch nicht drauf. Ob der Vertrag deshalb falsch ist? – Über dieser meiner Ratlosigkeit verging jedenfalls die Zeit.
Nun hat das Arbeitsamt zugeschlagen und mir das Geld entzogen, rückwirkend, wegen Erschwerung der "Ermittlungen über das Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen". Allerdings ist es so gnädig, prüfen zu wollen, ob es "die Leistung nachträglich ganz oder teilweise erbringen kann", wenn ich meine "Mitwirkung" nachhole und die Nebenverdienstbescheinigung jetzt einreiche.
Da nun die Aussicht, monatelang ohne jeden Pfennig Geld dazu stehen und keine Miete bezahlen zu können, alles andere als erfreulich ist, bitte ich Sie, möglichst rasch diese ominöse Nebenverdienstbescheinigung auszufüllen und mir zuzuschicken, damit ich das Arbeitsamt zufrieden stellen kann. – Hoffentlich ist der Vertrag doch richtig!
Schade! Eigentlich hatte ich mich ja gefreut, als ich das Geld erhielt. Aber inzwischen ist mir die Freude gründlich vergangen. – Als Arbeitsloser lebt man eben gefährlich!

Man kann sich denken, dass der Brief nicht von mit stammt. Ich war zu diesem Zeitpunkt verbeamtet auf Lebenszeit. Beachtlich scheint er mir, weil die schreibende Person aus Furcht vor der Institution sich nicht traute, dem Arbeitsamt mitzuteilen, weshalb sie die Anforderungen nicht ganz, sondern nur halb erfüllen könne. Dabei handelte es sich um eine Person, die - wie aus ihren Formulierungen hervorgeht - durchaus sprachmächtig war. 

Wie sehr wäre sie an den Anforderungen seit der erfolgreichen Agenda 2010 gescheitert?

Welche Schwierigkeiten hätte sie, rechtswirksam mitzuteilen, dass sie nicht zur Organspende bereit ist?

Wie viel mehr Schwierigkeiten hätte eine Person, die weniger sprachmächtig ist?