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4.5.21

Niemand ist vor dem Tode glücklich zu preisen

 Ihr im Lande Thebe Bürger, sehet diesen Ödipus,


Der berühmte Rätsel löste, der vor allen war ein Mann.
Der nicht auf der Bürger Eifer, nicht gesehen auf das Glück,
Wie ins Wetter eines großen Schicksals er gekommen ist,
Darum schauet hin auf jenen, der zuletzt erscheint, den Tag,
Wer da sterblich ist, und preiset glücklich keinen, eh denn er
An des Lebens Ziel gedrungen, Elend nicht erfahren hat.

(Übersetzung Friedrich Hölderlin)


O Bewohner unsrer Thebe, schauet an, der Ödipus,

Der erforscht' so tiefe Rätsel und verehrt vor allen war,

Dessen Los der Bürger niemand ohne Sehnsucht angeschaut,

Nun in welch graunvolles Schicksals Wogen der hinabgeriet!

Drum der Erdenmenschen keinen, harrend weislich immerdar,

Erst den letzten Tag zu schauen, preise ganz beglückt, bevor

Durch das Lebensziel er durchging, ohne daß ihm Leid geschah!

(Übersetzung: K.W.F. Solger)


O ihr Bürger meiner Heimat,

Sehet das ist Ödipus,

Der das schwere Rätsel löste,

Der so stolz und mächtig war,

Dessen Glück wir alle priesen,

Priesen und beneideten!

Seht, wie hat des Unheils Woge

Diesen Mann hinweggespült!

Muss der Mensch nicht ängstlich spähen

Nach dem letzten Lebenstag?

Kann man fortan einen Menschen

Glücklich preisen, der noch nicht

Seine ganze Bahn durchmessen

Ohne Kummer, ohne Leid?

(Übersetzung: Ernst  Buschor, in Beck'sche Verlagsbuchhandlung 1954)


Angesichts der Pandemie haben nach dem Urteil des gegenwärtigen Bundesverfassungsgerichtes die gegenwärtigen Verfassungsorgane kein Recht, das für die Begrenzung des Klimawandels Notwendige nicht zu tun. Denn das würde ja die Freiheit der kommenden Generationen beschneiden und zwar einzig aus dem Grund, weil es zu schwer scheint, das theoretisch Mögliche auch gegen Widerstände durchzusetzen.


Da haben für mich die Schlussworte von Sophokles' Tragödie König Ödipus einen aktuellen Sinn bekommen.

Noch nie in der Geschichte der Menschheit ist so viel in so kurzer Zeit erforscht worden. Noch nie ist das daraus resultierende Wissen so bald und so allgemein Verbreitet worden wie heute. Noch nie ist der durchschnittliche Wohlstand auf der Welt so hoch gewesen wie heute. 

Um die Möglichkeiten, die uns heute zu Gebote stehen, würden uns alle vorherigen Generationen beneiden.

Aber die Aufgabe, vor der wir stehen, könnte nicht zu lösen sein. 

Man wüsste gern ein gutes Ende voraus und darf sich glücklich schätzen, wenn man einen katastrophalen Ausgang nicht für notwendig hält.


Schon in der Antigone schrieb Sophokles:


Vieles Gewaltge lebt, und doch

Nichts gewaltiger denn der Mensch; [...]

Ratgeübt; ratentblößt

Betrifft ihn nimmerdar

Das Künftge. Nur Hades auch

Hat er nicht zu fliehn erlangt;

Doch harter Krankheit schwere Flucht

Ausgesonnen.

Mit listiger Künste Geschick

Auch über Verhoffen begabt, [...]



1.5.21

Keller: Martin Salander

 Nach dem Bekenntnis meines Deutschlehrers, der alles gelesen hatte*, dass er dies Buch als zu langweilig beiseite gelegt habe, glaubte ich mich berechtigt, nicht hineinschauen zu müssen. 

Das hatte gewiss seine Berechtigung. "Kein Mensch muss müssen." Aber nachdem ich heute in  Fontanes Briefen unter dem 10.12.1886 über Martin Salander gelesen habe: "von Heft zu Heft mit größtem künstlerischen Behagen gelesen, er ist einer der Wenigen, die einen nie im Stich lassen, gleichviel welche Wege sie gehn, [...] wie Sterne kann er thun, was er will, weil seine dichterische Persönlichkeit [...] alles siegreich herausreißt" will ich doch wenigstens den Versuch machen. Also:

"Ein noch nicht bejahrter Mann, wohlgekleidet und eine Reisetasche von englischer Lederarbeit umgehängt, ging von einem Bahnhofe der helvetischen Stadt Münsterburg weg, auf neuen Straßen, nicht in die Stadt hinein, sondern sofort in einer bestimmten Richtung nach einem Punkte der Umgegend, gleich einem, der am Orte bekannt und seiner Sache sicher ist. Dennoch mußte er bald anhalten, sich besser umzusehen, da diese Straßenanlagen schon nicht mehr die früheren neuen Straßen waren, die er einst gegangen; und als er jetzt rückwärts schaute, bemerkte er, daß er auch nicht aus dem Bahnhofe herausgekommen, von welchem er vor Jahren abgefahren, vielmehr am alten Ort ein weit größeres Gebäude stand." (Keller: Martin Salander, 1. Kapitel)

*Auch von der Gegenwartsliteratur las er fast alles, auch wenn er später im privaten Gespräch meinte, die Deutschstunde von Siegfried Lenz sei das Lesen nicht wert gewesen, er habe sie nur gelesen, weil er während seiner Dienstzeit als Deutschlehrer alles, was im Gespräch gewesen sei, habe kennen müssen (ein Urteil, das ich so nicht nachvollziehen konnte).

Ich werde mir also den Salander als Abendlektüre vornehmen und sehen, wie weit ich komme.