Pages

2.11.22

Weshalb sagen manche Leute, dass sie intelligenter sind als andere?

 Mein Erkärungsangebot:

Es ist durchaus nicht ganz einfach, wesentlich intelligenter zu sein als andere.

Ich merkte erst spät, aus dem Gesichtsausdruck meines Sohnes zu lesen, dass er oft alles, was ich ihm sagen wollte, schon verstanden hatte, bevor ich es selbst zu Ende gedacht hatte. Dafür hörte er sich schon als kleiner Junge Erklärungen von mir geduldig an, die meine sechs oder acht Jahre älteren Schüler nicht nachvollziehen konnten. ("So genau wollte ich das nicht wissen.") Denn was ihm völlig neu war, fand immer sein Interesse.

Ich bin sehr schwerhörig und selbst die modernen Hörgeräte können das nicht ganz ausgleichen. Deswegen muss ich immer wieder einmal erklären, weshalb ich etwas nicht verstanden habe. Hochintelligente kommen wohl immer wieder einmal in die Verlegenheit, erklären zu wollen, dass sie etwas verstanden haben, was der andere noch gar nicht gesagt hat.

Natürlich ist es kein Verdienst, intelligent geboren zu sein. Es ist auch kein Verdienst, Sohn berühmter Eltern zu sein. Aber es gehört schon etwas dazu, wenn jemand erst auf mehrmaliges Nachfragen ("Woher kannten Sie denn X. schon mit 10 Jahren?" u.ä.) damit herausrückt, dass alle Berühmtheiten, die in unserem Gespräch vorkamen, Bekannte seiner Eltern waren. Der jüngere Bruder dieses Sohns berühmter Eltern klärte mich schon mit seinem zweiten Satz darüber auf.

Wer mit etwas angibt, was nicht sein Verdienst ist ("Ich bin Deutscher!") wirkt natürlich unsympathisch. Aber wenn man lange Erklärungen anhören muss, bei denen man gleich zu Anfang gemerkt hat, dass der andere den Zusammenhang nicht verstanden hat, ist die Versuchung, das zu sagen, schon ziemlich groß.

Wie viel musikalischer meine Frau ist als ich, habe ich erst gemerkt, als sie sich mit meinem Sohn, der früh eine intensive musikalische Ausbildung hatte, über Details unterhielt, von denen ich überhaupt nichts verstand. Natürlich war mir von Anfang an klar, dass sie musikalischer ist als ich. Aber wie groß der Abstand auch bei Personen sein kann, keine Ausbildung haben, das merkt nur der, der mehr davon versteht. Der andere merkt vielleicht nur: Der kann besser Noten lesen und besser absingen als ich. Dass jemand das ganz selbstverständlich so gut kann, dass es ihm schwer fällt, sich klar zu machen, dass andere das wirklich nicht können, gibt es allerdings auch.

Nun, dazu gibt es eine ganze Reihe von schönen Anekdoten.

Diese meine Erklärungen hätte ich mir unter einer Voraussetzung ersparen können: Dann, wenn ich hätte sicher sein können, dass die folgende Frage nicht für angeberisch gehalten worden wäre:

Hast du denn wirklich noch nie darunter gelitten, dass du schneller denkst als andere?

Ich selbst habe als Lehrer durchaus darunter gelitten, wenn meine Schüler meine Erklärungen nicht verstanden haben. Aber nicht deshalb weil ich intelligenter gewesen wäre als sie. Mein Sohn kann ausgezeichnet erklären. Aber als er mir als Zwölfjähriger die Grammatik einer neuen Computersprache erklären wollte, hat er gelitten und gab an einer Stelle auf. Nämlich als ich eine Frage stellte, aus der er erkannte, dass ich schon den vorvorletzten Gedankenschritt nicht verstanden hatte.

Später hat er mir dann seine Promotion in 20 Minuten erklärt. Das hat deshalb funktioniert, weil er mir anhand von Analogien aus der Mathematik, die ich verstehe, anschaulich gemacht hat, inwiefern das, was er behandelt hat, etwas Neues war. Inzwischen kannte er mich gut genug, um einschätzen zu können, was ich nachvollziehen könnte und was nicht. Und so viel wusste auch ich längst: Es wäre töricht gewesen, mir genau das erklären zu wollen, was die Schwierigkeit bei seiner Arbeit war. Dafür fehlten mir alle Voraussetzungen.

So haben wir beide nicht gelitten. - Und ganz stolz war er, als er mir von seinem neuen Arbeitsplatz berichten konnte: Da gibt es welche, die viel intelligenter sind als ich. Und ich werde dafür bezahlt, dass jemand mir etwas erklärt.

Und wir hatten beide unsere Freude daran, als er meiner vierjährigen Enkelin erklärt hat, was ein Komet ist ("in kleiner Himmelskörper von meist einigen Kilometern Durchmesser, der in den sonnennahen Teilen seiner Bahn eine durch Ausgasen erzeugte Koma* und meist auch einen leuchtenden Schweif (Lichtspur) entwickelt."  - Wikipedia). Ich habe dabei viel gelernt und sie hatte das Gefühl, es richtig verstanden zu haben, besser als die Erklärungen von anderen Erwachsenen.

*"Sobald ein Komet bei der Annäherung an die Sonne in einem Abstand von etwa 5 AE ungefähr die Jupiterbahn kreuzt, bildet die Wechselwirkung zwischen Sonnenwind und Komet eine schalenförmige Koma, die in Kernnähe auch strahlenartige Strukturen zeigt. Sie entsteht durch Sublimation leicht flüchtiger Substanzen [...]" ( Wikipedia)

Man muss einen solchen Sachverhalt schon sehr gut verstanden haben, wenn man ihn einer Vierjährigen so erklären kann, dass sie mit der Erklärung etwas anfangen kann. Ich kann das nicht, und schon gar nicht mit wenigen Worten.

Und sie hat dann als Komet immer einen Schal als Lichtspur hinter sich her gezogen.

Sieh auch: gutefrage.net, wo die Frage gestellt worden ist, die ich zu beantworten suche. 

No comments: