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13.3.20

Ein Brief aus Kriegszeiten


 5.12.1944
Mein lieber, lieber J!
Dies soll ein Weihnachtsbrief werden. Möge er dich bei guter Gesundheit antreffen. Liebster, mir fehlen die Worte, dir das Liebe zu sagen, was in meinem Herzen dir entgegen eilt über Raum und Zeit hinweg. Wie auch der Weihnachtstag aussehen mag, wir wollen danken für das Schöne, dass wir einmal hatten, für das, was uns geblieben ist, und uns in allem in Gottes Hand geben. Die alten Weihnachtslieder sind etwas fremd in der heutigen Zeit. Wir leben immer auf der Hut, aber die Kinder sind doch in ihrer Welt, vor allem die kleinen. Helmut und Elisabeth sind schon wacher. Aber die alte Welt mit ihrem Schimmer leuchtet doch noch stark in ihre Herzen. Und wenn uns Gott das Leben und die Möglichkeit gibt, dann ist viel, viel Glanz am Weihnachtsfest bei uns. Puppen von Ille, Nähmaschine von dir, Nähkorb, Wiege und Püppchen von Freia, deine alten Bleisoldaten, Bilderbücher und Bücher zum Lesen, Plätzchen, ja sogar noch die Tafel Schokolade und Birnenhutzeln – Änne will für Tannengrün sorgen. Ob Weihnachtsbaum ist sehr fraglich, aber Kerzen sind noch da. Es kann schön werden. Ist aber alles vernichtet, nur das Leben gerettet, dann wollen wir nicht verzagen. Es ist eine harte Zeit, in der wir leben, Gott wird uns alles lehren. Wir wollen hören und schmecken, wie lieblich der Herr ist, im Grauen, in Not. Ich sage, wir wollen es, wie wir im Falle der Not uns benehmen, das wissen wir heute nicht. Aber bereit sein müssen wir, auch das Schwerste zu ertragen. Es ist heute schon immer eine kleine Übung, wenn wir unsere Herzen immer wieder zur Kinderheiterkeit aufsschwingen. Weißt du, als unser Gut ist mir jetzt schon unpersönlich geworden. Ich übe mich in dem Gedanken,es zu verlieren. Und mit umso dankbarerem Herzen erfasse ich jede Schönheit der Form, der Farbe, der Harmonie und Wärme. [...]


7.12.1944
Nun ist der Tag auch vorbei. Vormittagsprogramm mächtig Alarm, da kam Sommers Mädchen und klagte: nun hat Herr ... alles zurecht gemacht, sein Gedicht gemacht und nun ist das Nikolauskostüm an den Kinderhort verliehen! Und eine Maske haben wir auch nicht. Na, ich beruhigte sie, er solle man kommen, es würde schon etwas gefunden werden. Vielleicht hätten Sie eine Sofadecke. Ich suchte nun in den Zeit (unleserlich) Vaters Lodenmantel, einen Flachsbart von Großmutters Spinnrad, eine Stoffbahn zum Umhängen und anderes, was wir nachher nicht brauchten.
Um 3:00 Uhr kam Frau Steinbach zum Klavierspielen, wo Elisabeth gut, Helmut sehr schlecht abschnitt. Dann aber hüpfte ich mit Gerhard auf dem Hof herum, weil er anscheinend Lufthungerkopfschmerzen hatte. Helmut hatte schon immer um [!] den Nikolaus geredet. Er wünscht sich sehnlichst einen. Na, auf einmal erschien Frau Sommer in der Hoftüre. Ihr Vater verzog sich schleunigst wieder in den Hintergrund und ich führte Frau Sommer ins Kinderzimmer, um dann ihren Vater im Esszimmer mit grauer Wolldecke und Zipfeklappmütze und dem übrigen zu einem großen stattlichen Nikolaus umzuwandeln. Das Säckchen mit Äpfeln von Sommers, Nüssen von Freia und Honigkuchen von Deckers trug er in der einen Hand. Stock, Notizbuch und Schere für die Daumenlutscher in der anderen. So stapfte eher nach dem Klingeln in das Kinderzimmer, das traulich hell ihm in den dunklen Flur entgegenleuchtete mit seinem Tannenschmuck, dem an der Lampe hängenden roten Adventskranz und dem Adventskranz am roten Ständer auf dem Tisch. Die Kinder erwartungsvoll dem Kommenden entgegenschauend. Änne saß stopfend am Tisch, Bücher und Spielzeug nicht unordentlich auch dabei, Puppenstube auf der Truhe, Ball von Freia auf dem Fensterbrett. Ein trauliches Familienbild, würdig von Ludwig Richter festgehalten zu werden.

Und nun hielt der Nikolaus seine Rede, holte sich ein Kind nach dem anderen. Frau Sommer im Korbstuhl flüsterte mir ihr Entzücken über die Haltung der einzelnen zu. Ich saß auf der Truhe und hatte Walter auf dem Schoß. Gertrud plapperte gleich los: "Ich habe eine Puppenstube!" Aber der Nikolaus hörte nicht hin, da stahl sie sich zu mir, ohne die Augen von ihm zu wenden. Bald schlich sich Elisabeth auch zu mir, während Helmut ins Verhör genommen wurde. Ihre Erregung zu verbergen flüsterte sie lebhaft mit Walterchen, verstummte aber, als ein Blick des Nikolaus sie verweisend traf. Trödelei, Schmieren und Übertreiben zu lassen, ließ sich der Nikolaus durch Handschlag versprechen. Helmut in tadelloser Haltung. "Entzückend!!" flüsterte Frau Sommer. Nun Elisabeth! Näschenputzen, Freundlichkeit, Gehorchen aufs Wort wurde in halsbrecherischen Versen von ihr verlangt. Gerhard und Gertrud standen dann nebeneinander mit großen Augen vor dem großen Mann. Gertrud in schwarzen Röckchen, roten Blüschen und Herzchenschüzchen, ein Bilderbuch krampfhaft im Arm. Gerhard blass (Erkältungsfieber abends, heute 37,1) und still aber freundlich. Daumenlutschen und Geschrei sollten abgestellt werden, leise klickte die Stickschere. Die nächsten abgelesenen unglaublichen Verse wurden sicher nicht verstanden, was den Eindruck aber sicherlich nicht schmälerte. Elisabeth wurde noch um ihren Weihnachtswunsch gefragt. Und zur großen Verblüffung aller kam: "Stoff!" Nichts als Stoff, 2 u. 3 x. Schließlich erholte sich der Nikolaus von seinem wiederholten fassungslosen Fragen und sagte: "Stoff, lieber Nikolaus heißt das!" "Für die Puppenkleider, die sie nähen will", erklärte ich. Helmut, der nach Befragen erklärte, Reiter werden zu wollen, wünschte sich: "Bis jetzt noch nichts." Aber in einem Brief an mich hatte er sich gewünscht: 1. dass die Matrosenbluse bis Weihnachten fertig würde und 2. die Hose und 3. Klebstoff, "wenn es geht", jedesmal verständnisvoll hinzugesetzt. Also sagte ich "Klebstoff", was aufgeschrieben wurde. Und dann wurde Helmut das Säckchen zum Verteilen gegeben. Als ich dem Nikolaus fortgeholfen hatte, fand ich eine glückliche Kinderschar  an je einem Apfel knabbernd. Helmut aber fragte ganz dumm: "Wie machen wir denn die Nüsse auf?" Bald waren alle geknackt und verzehrt und auch die Honigkuchen. Ach ja, Änne hatte als Einzigste mit dem Stock Schläge bekommen, weil sie so spät käme. Es rührte sie aber in keiner Weise trotz des wunderbaren Verses: "Änne, die ich ganz genau kenne!" Oh, es war einfach überwältigend. Einen schwarzen Zigarillo musste ich doch für diese Anstrengung opfern, obgleich der alte Herr ihn dir nicht rauben wollte. Aber du hättest ihn sicher auch mit Freunden gegeben. Ja, der gute alte Nikolaus war in Nürnberg gewesen, hatte den Vater gesprochen, es ginge ihm gut und er käme bald. Was so ein Himmelsmann doch alles versprechen kann! Nach dem Abendsüppchen – Gertrud hatte sich an Mutters hochgehäuften Bratkartoffelteller gemacht, zeigte sich bei Gerhard 38,8 Fieber. Und ehe Helmut noch im Bett lag, ging die Sirene. Gerade als alles fertig waren, bis auf Gerhard, der schon schlief, Hauptalarm. Vergnügt tappelten sie in den Keller ab. Und als ich nach einer halben Stunde mit dem dick verpackten Gerhard kam, saßen alle in den Federbetten über die Bücher geneigt. Ich legte mich dazu, Walter im Wagen hin und her schiebend, weil er noch nicht schlief. Elisabeth las Geschichten vor und strickte dabei!!! Ohne hinzusehen! Tatsächlich. Auch jetzt sitzt sie, liest und strickt. Und es ist noch keine Woche her, dass sie die erste Masche gestrickt hat! Es ist erstaunlich. Helmut hatte übrigens nach dem Weggang des Nikolaus die für ihn bezeichnende Bemerkung gemacht: "Er hat aber bloß von dem Schlechten und unseren Fehlern geredet. Das Gute hat er nicht aufgeschrieben!" Er wird so gern gelobt. Er braucht die Anerkennung zur Aufmunterung. – Im Keller war es abgesehen von dem furchtbaren Gestank den Fräulein H. verbreitet, recht gemütlich. Herr Breitstadt zog schließlich seine Uhr und sagte: "Helmut, freue dich 5 Min. nach zehn!" Da braucht er er erst eine Stunde später in die Schule. "Aber Ihre Uhr geht doch vor!" Und Huhuuuu ging die Hauptentwarnung, und es war erst 10 Min. vor 10! "Nun muss sich Helmut wieder entfreuen, meinte Frau H. Wie macht er das? "Indem er das Tintenfass umschmeißt, wie heute nach der Klavierstunde!" sagte ich. Aha. – Na, bald schlafen alle. Und Gerhard Tat die zweite Blaudorntablette so gut, dass er heute wieder fröhlich auf dem Sofa liegend spielt. Und das Kinderplaudern bei Tisch war so fröhlich wie immer. "Ich bin ein Häschen", meinte Gertrud. "Du bist doch kein Nagetierchen", sagte ich. "Ich habe doch kein Nagelscherchen im Munde", echote sie lustig! Ach, J., unsere Kinder! Und Walters Pastellfarben, licht, wie auf Elfenbein von Tischbein gemalt mit diesen himmlischen duftigen Blau, Rosa und Mattgold. Liebster, wo wir auch sind, wir haben Schönstes gesehen, empfunden, erlebt, wir müssen alles bezahlen und immer noch stehen wir im Zeichen der Gnade. Deine L.

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